Die Endorphine tanzten Samba in Maxims Körper. Sein Name war eine Verpflichtung für ihn. Sie stand für maximalen Erfolg. Und seine neue Produktidee sollte ihm genau diesen Erfolg bescheren. Er war komplett berauscht von seiner neuen Vision. Eine App, mit der es jeder schaffen wird, sich spielerisch leicht gesund zu ernähren. Es war nicht weniger als das nächste Unicorn, das ihm in den Kopf gesprungen ist. Sie würde nicht nur die komplette Gastronomie revolutionieren. Nein, auch die Abnehmindustrie würde vor seiner Idee zittern und ihre Felle davonschwimmen sehen. Maxim malte sich aus, wie 5-Sterne-Bewertungen im Sekundentakt die App Stores fluten. Er sah vor seinem inneren Auge, wie irgendein Ingo aus Pforzheim schreibt:

Für Maxim stand es jetzt schon fest. Seine vor fünf Jahren gegründete Drunken Monkey GmbH wird mit der Idee endlich die Lorbeeren ernten, die sie schon lange verdient hat. Zwar hatten sie mit ihrem Kassensystem mit integrierter Sprachsteuerung schon ein Bein in der Gastrowelt aber der ganz große Wurf sollte noch nicht gelingen. Doch mit der dieser Idee sollte sich alles ändern.
Wie von einer wilden Tarantel gestochen, öffnete Maxim mit einem formvollendeten Roundhouse-Kick die Tür. Mit Schaum vor dem Mund spurtete er zum Schreibtisch seines Chefentwicklers Bruno. Mit einem ungesunden Mix aus freudiger Umarmung, wilden Brustklopfern und dem Blick des Wahnsinns redete Maxim auf Bruno ein: „HOL ENTWICKLER RAN!!! WIRST DU WOHL ENTWICKLER RANHOLEN??!!! EIN GANZES RUDEL!! HOL SIE UND LASS SIE ENDLICH VON DER LEINE! Die Idee des Jahrhunderts ist mir über den Weg gelaufen. Ach was, es ist der Einfall des Jahrtausends. Die Erfindung der Dampfmaschine ist die reinste Idiotie dagegen! Geradezu eine Beleidigung für den Fortschritt, der der Menschheit mit dieser Idee im Raum steht.“ Bruno musste sich erstmal sammeln und sortieren. Eine Reaktion, die bei Maxim auf komplettes Unverständnis stieß. Maxims Worte prasselten wie ein nicht enden wollender Hagelschauer auf Bruno ein: „Warum sprintest du nicht direkt zum Hörsaal und ziehst die Informatik-Studierenden aus der Vorlesung?! Sollen sie weiter mit blanker Theorie gelangweilt werden?! Hier können sie sich ein Denkmal setzen und Großes erreichen! Sie müssen es doch einfach nur umsetzen! Einfach mal machen, Bruno!“
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„Einfach mal machen“, Bruno dachte, dass er diesen Satz nun schon bei jeder der 42 Jahrhundert-Ideen gehört hatte. 42 müssten es dabei locker seit der Gründung des Unternehmens gewesen sein. Auch wenn die erste Idee vom eigenen Kassensystem mit Sprachsteuerung keine Jahrhundertidee war, sicherte sie dem Unternehmen genug monatlichen Umsatz, um kontinuierlich zu wachsen. Bruno und die anderen Gründungsmitglieder von Drunken Monkey waren dabei sehr erfolgreich, immer wieder neue Entwickler zu finden und einzustellen. So wie von Maxim gefordert, wurde ein Großteil der Neuankömmlinge direkt auf die neuen Ideen geworfen. Nichts anderes als ein Go-Live innerhalb weniger Wochen war die Marschroute. Leider war keine der weiteren Ideen bisher von Erfolg gekrönt. Dabei kam es sogar manchmal vor, dass tatsächlich eine Idee, oder eher das grobe Verständnis davon, innerhalb weniger Wochen releast wurde. Aber aus unterschiedlichen Gründen kam das Unicorn nicht zum Fliegen, sondern ist formidabel kurze Zeit nach Start gegen eine Wand gekracht. Entweder konnten sich keine Nutzer finden, die das Produkt nutzen wollten oder es waren schlichtweg zu wenige. Oder während der Entwicklung war das heimliche Ziel, so viele Bugs und Fehlfunktionen zu integrieren, die einem vielleicht einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde aber nicht an der Spitze der App-Charts bescherte. Die Gründe für das Scheitern waren für Maxim trivial. Entweder war der User zu blöd oder das Produkt kam zu früh auf den Markt und der Nutzer war einfach noch nicht bereit dafür. Aber viele Ideen haben den Status „Go-Live“ erst gar nicht erreicht. Sie wurden einfach aus dem Weg geschwemmt von einer noch besseren Vision, die die Drunken Monkey GmbH nach den Sternen greifen lassen sollte. Und auch hier hieß es „einfach machen“. Und die „einfach machen“-Mentalität hatte dazu geführt, dass das jeweilige Team, das die Vision umsetzen sollte, irgendwas einfach mal machte. Was bei jeder schwammigen Idee alle getan hatten, war wie ein Haufen Hühner auf einem wilden Ecstasy-Trip wild und orientierungslos im Kreis zu rennen. Sie hatten komplett ohne Verstand dem Wahnsinn ein Jahrhundert-Fest bereitet. Aber garantiert keine Jahrhundert-Idee umgesetzt.
Und doch hatten sie es immer wieder getan. Der Glaube an Maxim und den ersten Produkterfolg hatten Bruno und das Team lange darauf vertrauen lassen, dass es doch schon wieder klappen wird. Aber mit jedem Scheitern hatte Bruno gemerkt, dass das Vertrauen bei ihm nachließ. Wenn er Maxim nun in die Augen sah, erkannte er nichts anderes als den puren Wahnsinn darin. Für Bruno brachten Maxims Worte das Fass zum Überlaufen. Der Zorn schlug sich unaufhaltsam Bahn in ihm und bringt seine Halsschlagader zum Beben. Er konnte die negativen Emotionen nicht mehr kontrollieren. Schließlich schossen sie in einer Wutrede aus ihm raus, die niemand bei den Drunken Monkeys je wieder vergessen würde. Eine Wutrede, bei der selbst Klaus Kinski Hochachtung zollen würde:
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„Die Idee des Jahrhunderts??! Das letzte Mal war es noch die „Genialität des Jahrtausends“. Glaubst du etwa selbst nicht mehr dran? Oder ist das deine neue Form der Bescheidenheit? Aber ich sag dir was es ist. Es ist wieder eins deiner Luftschlösser. Ein Luftschloss mit einem Fundament aus Scheiße! Ja, lass uns direkt wieder ein Kick-Off-Meeting ansetzen, in dem du wieder 100 Bulletpoints mit irgendwelchen Höhlenmalereien verknüpfst. Und dann sitzen Product Owner und Entwickler wieder Tag für Tag wie Alan Turing vor der Enigma und versuchen aus dem Blödsinn schlau zu werden. Wir versuchen irgendwie zu entschlüsseln, was du in aller Herrgotts Namen von uns willst. Aber es wird wieder scheitern. Und warum? Weil du es selbst nicht weißt, was du willst. Lass uns wieder jede Woche irgendein bescheuertes Weekly, Jour-Fixe oder sonst was abhalten, indem du neue Verwirrung stiften kannst. Das ist die Definition des Wahnsinns. Und wir erwecken den Wahnsinn auch noch zum Leben, in dem wir tausende Zeilen coden. Das muss aufhören. Und es wird aufhören. Ich soll neue Entwickler holen? Nicht einen weiteren Entwickler werde ich hier verheizen und in eine Sinnkrise stürzen, weil er gezwungen wird, einfach mal zu machen. Hier ist so viel Talent in dem Laden, aber dank deiner Ideen prügeln wir nur darauf ein. Programmier doch deine Scheiße allein!“
Die Worte erschütterten Maxim bis ins Mark. Es fühlte sich an, als hätte ihn Bruno vom Turm der Euphorie gestoßen. Es war nicht nur ein Schubser. Nein, er hatte auch noch großspurig Stacheldraht ausgelegt, damit der Aufprall auf dem Boden der Tatsachen besonders schmerzt. Aber Maxim wäre nicht Maxim, wenn er auch mental angeschlagen nicht direkt zum Gegenschlag ausgeholt hätte:
„Ich verstehe gar nicht, was du hier für einen Affentanz aufführst. Was denkst du eigentlich wer du bist? Ich habe dich groß gemacht. Nur dank meiner Ideen sitzt du überhaupt hier! Aber ich zwinge dich nicht dazu am nächsten großen Ding mitzuschrauben. Wir sind keine Company, die sich dem Stillstand verpflichtet hat. Wir bleiben nicht stehen, wir fliegen zum Mond. Mit der Idee geht es für uns geradeaus auf den Olymp der größten Techunternehmen. In zwei Jahren wird jedes Kind Drunken Monkey in einem Atemzug mit Apple, Google, Microsoft und Amazon nennen. Deliveroo wird betteln in unsere Lösung integriert zu werden und nicht umgekehrt. Du musst dir überlegen, ob du noch dabei sein willst. Geh doch wieder dahin, wo du hergekommen bist und arbeite von 9 bis 5 irgendwelche Tickets ab.“
Überraschend trugen Maxims Worte nicht zu Brunos Beruhigung bei. „Pass auf was du sagst. Ich hab so eine kurze Zündschnur gerade.“
„Merk ich gar nicht“, erwiderte Maxim mit aufreizender Süffisanz.
Bruno merkte, dass er sich der Situation entziehen musste. Mit Schaum vorm Mund brüllte er Maxim noch „Irgendwann kommt der Tag, an dem ich dir auf die Fresse haue!“ entgegen und stürmte aus dem Raum.
Alle anderen Mitarbeiter im Raum guckten sich überfordert an. Wie sollten sie nun mit dieser Situation umgehen? Während sich der Streit zwischen Maxim und Bruno immer weiter zuspitzte, konnten sie es sich noch in der Rolle des Schaulustigen gemütlich machen. Einfach Kopfhörer aufsetzen und so tun, als würde man arbeiten. Eben hatte es sich für jeden noch angefühlt wie Silvester. Einfach bis 12 gespannt warten, bis das Feuerwerk losgeht. Aber nun war das Feuerwerk vorüber und Maxims Blicke verlangten nach einer Reaktion des Teams.
Leander schaffte es schließlich diesen schier nie enden wollenden Moment der unangenehmen Stille zu durchbrechen. Leander war als starker Befürworter der gewaltfreien Kommunikation im Raum bekannt. Erst vor wenigen Wochen hatte er für das Team einen kleinen Workshop mit einem Experten auf dem Gebiet der Giraffensprache organisiert. Leanders Hoffnung, dass das Team auch in Stresssituationen die Fassung bewahrt und einen respektvollen Umgang pflegt, hatte mit dem heutigen Eklat einen herben Dämpfer erlitten. Dennoch wollte er auch hier wieder als Vorbild vorweggehen und ergriff gegenüber Maxim das Wort:
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„Maxim, ich habe bemerkt, dass du mit Bruno über die neue Produktidee gesprochen hast. In mir hat sich der Eindruck geradezu manifestiert, dass ihr unterschiedliche Ansichten zum Potenzial der Idee habt. Ich fühle mich unbehaglich und bin äußerst besorgt über die Spannung, die ich zwischen euch wahrnehme. Es scheint, dass ihr beide sehr ausgeprägte Gefühle zu dem Thema habt.“ Maxim guckte Leander verdattert an. Für ihn gehörten Leanders Formulierungen in der Giraffensprache ins Land der Esoterik aber nicht ins Büro. Er wollte ihm schon ins Wort fallen, ließ ihn aber aussprechen, um nicht den nächsten Streit zu provozieren. „Ich glaube, wir alle hier brauchen Klarheit und Verständnis über die Perspektive des anderen, damit wir zu einer Lösung kommen können. Können wir vielleicht einen Moment innehalten, Bruno in unseren Kreis zurückholen und uns alle an die Hand nehmen? Nur um zu vereinbaren, dass wir alle unsere Sicht auf die Produktidee teilen können? Ganz ohne Beleidigungen und Verletzungen?“
Maxim musste sich beherrschen jetzt nicht selbst einen Klaus Kinski-reifen Auftritt hinzulegen. Er konnte mit der Giraffensprache nichts anfangen. Sie nervte ihn, er wollte lieber Tacheles sprechen. Beziehungsweise wollte er anderen gegenüber Tacheles sprechen und keine großen Widerworte erfahren. Das war für ihn nur Gemecker. Und wer meckert, der ändert nicht. Darum sollten sie auch einfach machen. Er fragte sich, was denn immer wieder nur so schwer daran zu verstehen sei? Trotzdem wusste er, dass er Leander brauchte. Er war sein bester Frontendler. Ohne ihn würde das komplette User Interface im reinen Chaos enden. Daher versuchte er das Positive aus Leanders Worten zu ziehen. Mit übertriebenem Verständnis antwortete er: „Das ist eine herausragende Idee, Leander! Ich wollte gerade haargenau das Gleiche sagen. Ich danke dir vielmals für deine Worte! Besser hätte man es gar nicht sagen können. Ich beneide dich darum, wie du es immer wieder schaffst in einfachen Worten den Teamgedanken hochzuhalten. Von daher lasst uns Bruno wieder in unseren Kreis aufnehmen. Wer holt ihn zurück? Mich würde er wohl direkt in den Schwitzkasten nehmen, um mir in dieser Position jedes Haar einzeln herauszureißen. Darauf würde ich gerne verzichten. Also Kinder, wer setzt sich die Spürnase auf, findet ihn und holt ihn zurück??!“
„Ich würde mich direkt losmachen, aber leider leider muss ich jetzt in einen ganz wichtigen Call mit der DEGOSA“, entgegnete Sales-Agentin Laura wie aus der Pistole geschossen. In ihrem Schlepptau entzogen sich mit dem gleichen fadenscheinigen Argument Felix und Marie der Situation. Maxim schaute auffordernd abwechselnd zu den letzten drei Verbliebenen im Raum.
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Sebastian aus dem Backend starrte wie üblich auf seinen Bildschirm. Maxim dachte, dass er an dieser Abwehrhaltung selbst mit der Bitte abprallen würde, ein Hundewelpen aus einem Haus zu retten, das gerade erst anfängt zu brennen. Natürlich wäre es in einer solchen Situation Maxims Wunsch das Hundewelpen zu retten und nicht direkt die aufkeimende Flamme zu ersticken. Er lebte einfach für das Spektakel. Und tatsächlich machte Sebastian keinerlei Anstalten, seinen Blick zu lösen und auf Maxims Bitte zu reagieren. Er starrte weiter.
Ob Maxim nun weiterstarrte bis er vor Erschöpfung umfiel oder ob sich doch noch jemand finden ließ, der sich auf die Suche nach Bruno machte und die Wogen glätten konnte, erfährst du im nächsten Kapitel.
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