Maxim sah Leander und Lotta geradezu flehend an. Leander zeigte auf die Uhr: „Ich nehme den Wunsch deinerseits wahr, dass ich auf Bruno zugehe und die Rolle des Vermittlers einnehme. Auf der einen Seite rührt es mich und ich bin dir dankbar für die Wertschätzung, die du mir damit entgegenbringst. Aber wie du weißt, ist zwischen 14 und 16 Uhr meine Fokuszeit. Eure Auseinandersetzung hat schon einen Teil meines Fokus genommen. Daher verspüre ich das dringende Bedürfnis, jetzt noch in Ruhe zu programmieren, um mit einem guten Gefühl in den Feierabend gehen zu können. Ich freue mich hier über dein vollumfängliches Verständnis.“
„Willst du mich eigentlich komplett ver..“, bevor Maxim seinen Unmut über Leanders Worte äußern konnte, fiel Lotta ihm ins Wort: „Maxim, entspann dich, Ich suche Bruno …“. Um bloß keine Sympathiepunkte zu sammeln, wies Maxim Lotta direkt zurecht: „Lotta, du musst noch viel lernen. Drunken Monkeys suchen nicht. Sie finden.“ Lotta verdrehte die Augen und erwiderte: „Ok, ok, ok, ich FINDE Bruno. Und dann FINDEST du mal den freundlichen Chef in dir und wir FINDEN hier alle gemeinsam Lösungen für unsere Probleme. Wie FINDEST du das?“ Maxim war von Lottas Schlagfertigkeit beeindruckt. Sie war erst seit vier Wochen als Product Owner bei den Drunken Monkeys und bot Maxim direkt die Stirn. Mit dem traurigen Versuch in die Rolle des großen Motivators zu schlüpfen, entgegnete Maxim schließlich: „Das finde ich super. Danke, Lotta! Du bist unsere Heldin, weil du Bruno wiederfindest. Ich glaube an dich!“.
Lotta eilte aus dem Büro. Ihre Spürnase trieb sie direkt in die Bar „Taifun“, die nur wenige Meter entfernt liegt. Ihre Spürnase sollte ihr keinen Streich spielen. In der Bar traf sie tatsächlich auf Bruno. Er saß dort mit einem raffinierten Herrengedeck am Tresen. Er schien vertieft in die Frage, in welcher Folge er genau Kölsch und Klaren seinen Rachen herunterkippen sollte. So bemerkte Bruno gar nicht, wie sich Lotta neben ihn setzte. Indem sie seinen Klaren direkt in einem Zug herunterspülte, schleuderte sie Bruno brachial aus seinem Gedankenpalast. Mit einem lauten „EY, WAS SOLL DAS??!“ ließ er die komplette Bar erbeben. Während er alle Blicke auf sich lenkte, nahm er endlich Lotta wahr. Mit vorwurfsvoller Miene fragte er Lotta: „Warum hast du das getan?“
„Weil du einen klaren Kopf brauchst, ich bringe dich zurück ins Büro und wir suchen nach einer Lösung“.
„Bei den Drunken Monkey suchen wir nicht, wir finden“, sagte Bruno und reflexartig schnellte dabei sein erhobener Zeigefinger in die Höhe. „Oh Gott, jetzt höre ich mich schon an wie Maxim.“
Lotta merkte, dass Bruno peinlich berührt war. „Kein Wunder, wenn man schon so viele Jahre mit ihm zusammenarbeitet. Mach dir deswegen keinen Kopf.“
„Es ist ein Zeichen, dass ich dringend aufhören sollte mit ihm zusammenzuarbeiten. Für mich war’s das. Ich kann das alles nicht mehr. Darum trink jetzt mit mir auf meine Kündigung oder geh bitte.“ Aber Lotta stand weder der Sinn danach sich weitere Klare die Kehle herunterzukippen noch zu gehen. „Den Gefallen werde ich dir nicht tun. Ich bin mir sicher, dass wir zusammen mit Maxim noch viele erfolgreiche Produkte bauen werden. Wir müssen ihm nur Contra geben. Und ihn wissen lassen, dass wir allein mit Aktionismus nur ewig weiter einem Unicorn hinterherjagen aber niemals eines finden werden.“
Vollkommen überraschend war Bruno nach diesem Statement noch nicht überzeugt davon, direkt wieder zurück ins Büro zu stürmen. Er nahm lieber einen großen Schluck von seinem wohltemperierten Kölsch und sagte: „Maxim wird sich niemals ändern. Glaub mir, wir haben oft genug versucht ihm diesen Aktionismus auszutreiben. Gepaart mit den wildesten Übertreibungen springt er auf jeden Hype-Zug, der an uns vorbeikommt. Und wir sollen dann aus wirren Worten Diamanten schleifen. Es ist zwecklos.“
„Aber ich will Maxim diesen Aktionismus gar nicht komplett austreiben“, sagte Lotta entschieden.
Bruno fragte sich, ob Lotta nach einem Kurzen schon kurz vorm Delirium steht und nur noch wirres Zeug erzählt. „Aber meintest du eben nicht noch, dass uns der Aktionismus nicht weiterbringt?“
Lotta holte tief Luft. Sie fragte sich, wie sie es diesem leicht angesoffenen Kerl bloß verständlich machen soll, was sie genau meint. „Ja, wenn man auf ihn so reagiert wie ihr in der Vergangenheit. Wir brauchen dringend solche Impulse, um nicht stehenzubleiben.“
Jetzt habe ich es mit dem nächsten Geisteskranken zu tun, dachte Bruno.
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Für ihn hatte Lotta jetzt direkt eine zünftige Ansage verdient: „Ja, leck mich doch am Arsch hier! Jetzt klingst du wie Maxim. Geh mir aus der Sonne und lass mich endlich in Ruhe Bier trinken. “
Mit vor Ärger bebender Stimme erwiderte Lotta: „Bullshit! Hör mir gefälligst zu!“. Bruno verstummte sofort. Diese Ansage traf ihn wie ein brachialer Fausthieb in die Magengrube. Er musste sein ganzes akrobatisches Können aufbieten, um nicht vom Hochstuhl zu fliegen. „Ja, wir brauchen solche Impulse, um nicht stehenzubleiben. Aber meintest du vorhin nicht selbst, dass ihr oft nach einem Impuls nur wie die Hühner schreiend im Kreis lauft? Das ist auch das, was ich beobachtet habe, seitdem ich hier bin. Es gibt hier kein gemeinsames Verständnis von neuen Produkten oder Features. Es gibt keinerlei Orientierung. So als würde bei uns jemand am Steuer sitzen, der locker eine halbe Kiste Bier intus hat. Er fühlt sich auf dem Highway des Glücks aber setzt die Kiste doch nur schnurstracks in den Graben.“
Bruno nickte zustimmend und sagte: „Du legst den Finger in die Wunde. Was anderes habe ich auch nicht behauptet. Aber wie willst du das ändern?“
Lotta merkte, dass es in Brunos Oberstübchen anfing zu arbeiten und er endlich seinen Groll etwas beiseiteschiebt. Sie war optimistisch, dass sie ihn doch noch überzeugen kann: „Ich habe da schon eine Idee. Du weißt doch, dass ich vorher mit Spood den besten Online-Supermarkt mitentwickelt habe. Wir hatten dort anfangs ähnliche Probleme. Aber irgendwann habe ich das Storytelling für uns entdeckt. Und wie es unsere Produktentwicklung meilenweit nach vorne katapultiert hat. Und ich bin mir sicher, dass es uns auch weiterhelfen wird. Weißt du denn, was die genaue Geschichte hinter den vielen Ideen von Maxim war?“
Bruno nippte kurz an seinem Kölsch. Ihn interessierten doch keine Geschichten, er wollte einfach nur Software bauen, für die irgendwelche Leute bereit sind zu zahlen, damit er möglichst bis zur Rente und darüber hinaus mit seinem Hobby ein schönes Leben leisten kann. Auf der anderen Seite ist er ein großer Fan von „Spood“. Er liebt an der App, dass sie ihm das Gefühl vermittelt, als würde er zu klassischer Musik geradezu durch den Supermarkt schweben und von einem wohlsortierten und gut in Szene gesetzten Angebot verwöhnt werden. Und dass alles ohne die nervigen Nebengeräusche wie eine Kleingeld zählende Oma an der Kasse oder die von einem sehr schlechten Ballermann-DJ ausgewählte gewohnte Supermarktmusik. Vielleicht steckte doch mehr dahinter, als er dachte. Einen Reim konnte er sich trotzdem nicht darauf machen: „Wie meinst du das? Ich will doch gar keine Geschichten hören, ich will einfach nur erfolgreiche Software bauen.“
„Bruno, du glaubst gar nicht wie eng eine überzeugende Geschichte und erfolgreiche Softwareentwicklung zusammenhängen. Wenn uns bei den Drunken Monkeys endlich als Protagonisten einer überzeugenden Geschichte verstehen, in der unsere User als Hauptakteure im Fokus stehen, werden wir Software bauen, von denen du noch freudestrahlend deinen Enkeln erzählen wirst. Lass uns direkt mal mit einer Frage beginnen: Kannst du mir denn heute sagen wer die genauen User hinter der Maxims wilden Produktideen waren? Wer soll denn das Produkt überhaupt nutzen? Und warum soll er es nutzen? Was sind die genauen Probleme, die wir lösen wollen?“
„Wenn das eine Frage war, hatte ich heute auch erst ein Kölsch“, sagte Bruno. „Aber du hast vollkommen recht. Wir haben uns die Fragen schon immer mal wieder gestellt. Wir haben niemals ein genaues Konzept oder eine Geschichte entwickelt, wie du es nennst. Und wir kennen auch keine User. Unser Ziel war es vielmehr das Produkt so zu entwickeln, wie Maxim es sich vorstellt.“
Lotta kannte dieses Phänomen nur zu gut. In ihrer bisherigen Laufbahn war es ihr nicht nur einmal passiert, dass der Geschäftsführer das Zepter wie im Sinne eines mehr oder weniger wahnsinnigen Autokraten schwang und von seinen „Untergebenen“ verlangt die Software nach seinem Gusto umzusetzen: „Der klassische HIPPO-Effekt.“
Für Bruno war dies das nächste Buzzword, das Lotta so locker aus der Hüfte schwang, auf das er sich aber wieder keinen Reim machen konnte: „Ich werde zu betrunken für irgendwelche Happy Hippo-Effekte. Was soll das schon wieder sein?“
„Dahinter verbirgt sich leider kein knuffiges Happy Hippo. Nein, HIPPO steht für die ‚highest paid person opinion‘. Die kann sehr gut sein, weil sich die Person mit dem Markt auch in der Regel sehr gut auskennt. Und manchmal kann daraus auch ein sehr gutes Produkt entstehen. Aber ich frage dich, wollen wir in unserer Produktentwicklung Russisch Roulette spielen und auf den Zufall vertrauen, dass es schon gut ausgehen wird?“
Lotta sah, dass ein süffisantes Grinsen über Brunos Lippen huschte. Sie erschrak fast, weil bei Bruno mit allem rechnet, aber nicht unbedingt mit einer positiven Gefühlsregung. Sie wollte es aber auch nicht missinterpretieren und stellte sich schon auf die nächste von Wut, Groll oder Resignation motivierte Antwort ein. Doch zu ihrer Überraschung ist Bruno milde gestimmt. „Mit Maxim würde ich ja gerne mal Russisch Roulette spielen“, sagte Bruno mit einem ironischen Unterton. „Ach, wir sind einfach eine elende Bande von Idioten. Von uns hat doch niemand eine Ahnung davon, wie man professionell Produkte baut. Und ich bezweifle auch ganz stark, dass wir das auch mit deiner Erfahrung von heute auf morgen hinbekommen.“
Mit seinen Zweifeln hatte Bruno bei Lotta in ein Wespennest gestochen. Sie war es gewohnt unterschätzt zu werden. Aber anstatt zu resignieren, lösen die Zweifel anderer eine „Jetzt erst recht“-Reaktion in ihr aus. Sie schaltete direkt auf Angriff. „Wir können nicht alles von heute auf morgen ändern. Aber wir werden direkt damit anfangen es besser zu machen.“, sagte Lotta und leitete damit eine fulminante Brandrede fürs Storytelling in der Produktentwicklung ein. Bruno war geradezu geblendet vom grellen Funkeln, das Lottas Augen erfüllte, während sie ausführte, wie man mit Hilfe von Personas und User Story Mapping das große Ganze eines Produkts für alle verständlich macht. Bruno und auch alle anderen Gäste am Tresen beendeten ihre Gespräche. Sie hatten nur noch Ohren für Lotta. Mit illustren Beispielen brachte sie der aufmerksamen Kneipengesellschaft Konzepte wie Behavior Driven Development, Domain Stories oder Product Discovery und Delivery näher. Auch Stammgast Achim hatte jetzt selbst nach zwölf Korn eine genaue Vorstellung, wie diese Methodiken helfen die perfekte Geschichte für ein Produkt zu erzählen. Wer in dieser Kneipe noch kein Produktmanager gewesen war, wollte es spätestens nach Lottas Ausführungen sein.
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Und auch Bruno hatte sie komplett überzeugt. Er war motiviert bis in die Haarspitzen. Er war der festen Überzeugung, dass es mit einer so leidenschaftlichen Produktmanagerin wie Lotta wirklich gelingen konnte, selbst aus Maxims wirren Gedanken einen goldenen Faden zu spinnen. Lotta musste Bruno abschließend nur noch versichern, dass sie Maxim direkt verbal an die Schläfe kloppt, wenn Maxim anfängt Dinge zu erzählen, die niemand versteht. Sie stürmten ins Büro zurück und wollen direkt Maxim aufsuchen, um ihm zu klarzumachen, wie sie mit seiner neusten Produktvision umgehen wollten.
Aber im Büro herrschte gähnende Leere. Bruno und Lotta haben gar nicht wahrgenommen, dass sie fast bis Mitternacht im Taifun zusammengesessen haben. Aber ihre Euphorie wollten sie sich nicht so abrupt nehmen lassen. Lotta schrieb Maxim eine Nachricht auf sein Handy: „Bruno ist wieder dabei. Wir wollen mehr von deiner Produktidee erfahren. Lass uns so schnell wie möglich mit einem Workshop starten. Wir brauchen uns drei, Leander und mindestens noch eine Person aus Marketing und UX. Wir freuen uns. Gute Nacht. P.S. wir spielen das Spiel diesmal nach meinen Regeln.“

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